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Sprachkurse – ein Großprojekt

Ohne Deutschkenntnisse keine Perspektive: Über 10 000 Migranten haben seit 2016 Angebote der KVHS Mainz-Bingen besucht

Zwei Geschichten sind Monika Nickels besonders präsent. Die eines jungen Flüchtlings, der sich in den Sprachkursen der Kreisvolkshochschule (KVHS) Mainz-Bingen auf B1- und B2-Niveau gebracht hat, dann Haupt- und Realschulabschluss nachholte und jetzt eine Ausbildung zum Rettungssanitäter macht. Eine Erfolgsgeschichte, Fortsetzung folgt. Und die einer jungen Syrerin, lernfreudig, naturwissenschaftlich begabt und erfolgreich – so lange ihre Familie nicht eingriff. Der Abschluss gelang, das Angebot zur Ausbildung aber schlug sie aus. „Sie wurde verheiratet“, berichtet die Volkshochschulleiterin.

Etwa 10 000 Einwanderer haben von 2016 bis 2019 die KVHS Bingen besucht, um Deutsch als Fremdsprache zu lernen. Manche zählen mehrmals, weil sie mehrere Kurse belegt haben. Rund 1000 Teilnehmer haben die A2/B1-Prüfung bestanden. A2-Niveau genügt für das Notwendigste im Alltag, das erreicht fast jeder, der zur Prüfung antritt. B1 schaffen weniger als zwei Drittel. „Für den Schritt zur Berufsausbildung ist der Schritt auf B2 wichtig“, sagt Nickels, „aber der Schritt ist sehr groß, die Erfolgsquote geringer.“ 240 Personen haben binnen vier Jahren die Kurse besucht, etwa jeder Zweite schafft den Abschluss.

Deutsche Sprache schwere Sprache. Die Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zu einer erfolgversprechenden Bildungsbiografie. Als die so genannte Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt war, war die KVHS fast zur Hälfte mit Sprachkursen für Migranten beschäftigt. „Normalerweise muss eine Bildungsorganisation alle Fachbereiche abbilden, aber es war eine besondere Situation“, blickt Nickels zurück. Sprachförderung in eigenen Kursen, in den Räumen von Orts- und Verbandsgemeinden sowie Kirchen quer durch Rheinhessen verteilt, Sprachkurse in Kitas und Schulen, Sprachkurse in den Ferien, Sprachkurse auf Geheiß des Jobcenters. Ein Großprojekt, millionenschwer.

Die Zahl der Integrationskurse hat mittlerweile um mehr als ein Drittel abgenommen, und es sind weniger Menschen in den Kursen. „2016 hat es dreizügig angefangen, inzwischen läuft nur noch ein Kurs zur Zeit“, erzählt Nickels, „parallel hat sich das Geschehen stark in die Schulen verlagert.“ Mehr als 20 Schulen machen mit, acht bis 20 Stunden pro Woche wird Deutsch als Fremdsprache da, wo die jungen Migranten sind, unterrichtet. Für das Angebot gibt es kein Geld vom Land, der Landkreis nahm voriges Jahr 360 000 Euro allein hierfür in die Hand.

Nur einer von hundert Flüchtlingen kam mit guten oder sehr guten Deutschkenntnissen, sagt Migrationsforscher Herbert Brücker. Die 360 000 Menschen, die inzwischen einen Job gefunden haben, mussten also größtenteils durch die Sprachkurse erst einmal dazu befähigt werden. Die Beschäftigungsquote lag vor einem Jahr laut der Bundesagentur für Arbeit bei unter 30 Prozent – weniger als halb so hoch wie bei Einheimischen. Auch hier sind Bildung und, als Basis, die Sprache der Schlüssel.

Für die sprachliche Integration der Flüchtlinge gibt der Staat jährlich einen Milliardenbetrag aus. Ein Beispiel aus Mainz-Bingen sind die nachholenden Schulabschlüsse, die von 2016 bis 2019 280 Migranten absolviert haben. „Wir können uns vor Anmeldungen für den Hauptschulabschluss kaum retten, weil die jungen Menschen, die die Sprache gelernt haben, merken, dass in Deutschland ohne Schulabschluss wenig geht“, sagt Nickels. Der Aufwand ist groß, beginnend mit Eignungstests und Vorschule. Für den Fachunterricht in Erd- und Sozialkunde, Mathe oder Geschichte braucht es oft vorbereitende Deutschstunden, um den Stoff zu durchdringen. „Sonst können die Schüler das gar nicht verstehen, auch mit B1 nicht.“

Der angehende Rettungssanitäter, von dem die Schulleiterin berichtet, hat dieses Prozedere durchlaufen. „Im Durchschnitt kostet uns ein Schulabschluss 50 000 Euro“, rechnet Nickels vor, „und wir haben ein Problem mit der Finanzierung“. Fühlt sich die KVHS ansonsten bei ihren Integrationsbemühungen adäquat ausgestattet, so klafft hier ein Loch, denn vom Land kommen laut Nickels lediglich 12 000 bis 15 000 Euro pro Schulabschluss. Der Landkreis hilft, ebenso Spender, Sponsoren, Stiftungen, Rotarier. „Wir brauchen viel mehr Unterrichtsstunden, als die Förderrichtlinie hergibt. Das Land müsste sich da endlich mal bewegen“, fordert die Schulleiterin.

Das Bildungsangebot für Flüchtlinge an der KVHS Mainz-Bingen ist vielfältig. 250 Teilnehmer haben die Erstorientierungskurse durchlaufen, 2500 in der Kita und 2000 an den Schulen Sprachförderung erhalten, 800 ihre Deutschkenntnisse durch das Bundesprogramm Bildung und Teilhabe für die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt verbessert. 700 Grundschüler machten bei Feriensprachkursen mit, 1250 Kinder wurden durch das Ferienprogramm TalentCAMPus erreicht. Die Alphabetisierungskurse hatten vor zwei Jahren eine Hochphase, wobei so mancher erst einmal die lateinische Schrift erlernen musste.

Auf der anderen Seite der Skala finden sich die Teilnehmer, die C1-Sprachniveau erreichen. „Das sind Menschen, die an die Uni wollen oder im medizinischen Bereich arbeiten“, sagt Nickels. Im Moment läuft ein C1-Kurs zur Hälfte online und in Präsenz. „Die Teilnehmer kommen nahe an unsere Sprachkompetenz heran“, berichtet die Schulleiterin, „es sind lerngewohnte Menschen, die mit hohem Bildungsniveau nach Deutschland gekommen sind.“

Monika Nickels erinnert sich noch gut an das Jahr 2015. „Wir mussten überhaupt erst einmal als Bildungsinstitution wahrgenommen werden“, erzählt sie. Klar war, dass die vielen Hunderttausend Menschen, die auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingswelle“ nach Deutschland kamen, mit hoher Priorität die Sprache lernen müssen. „Wenn die Menschen einen geregelten Aufenthaltsstatus haben, stellen wir einen Antrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“, berichtet Nickels, „haben sie keinen Status, ist das auch nicht schlimm, denn im Landkreis Mainz-Bingen durfte jeder lernen, der wollte. Das war der Ausgangspunkt, und das ist bis heute so. Wir unterscheiden nicht in Flüchtlinge oder Migranten, auch nicht nach Aufenthaltsstatus. Uns interessiert nur, wer den Kurs bezahlt.“

Auch wenn die große Welle abgeebbt ist, ist die Nachfrage noch immer hoch. „Wir könnten mehr anbieten, haben aber die Lehrer nicht“, sagt Nickels. Im Falle der nachholenden Schulabschlüsse müssen die Lehrer fest angestellt werden. Mehr als 40 Anmeldungen liegen aktuell vor, sie alle zu bedienen, wird unter den Corona-Regeln schwierig. Die KVHS Mainz-Bingen hat das Glück, nahe an der Mainzer Universität zu sitzen, wo Deutsch als Fremdsprache gelehrt wird. „Viele unserer Lehrer kommen von dort“, berichtet Nickels. Studenten werden in der Sprachförderung nicht eingesetzt, allenfalls Referendare.

Von den 320 bis 350 Referenten, die die KVHS beschäftigt, waren in der Spitze mehr als 100 nur mit Deutsch als Fremdsprache befasst. In Sachen Integration gab es durchaus einen Wettbewerb der Länder. „2016/17 mussten wir Lehrer fest anstellen, weil sie uns sonst scharenweise verlassen hätten, denn auf der anderen Rheinseite wurden sie sofort fest angestellt“, erzählt Nickels, „eine Neuregelung des Bundes hat das dann entschärft.“ 35 Euro gab es pro Lehrer und Unterrichtseinheit, „wir haben das eins zu eins weitergereicht“. Integration als Jobmotor.

Kulturelle Barrieren wie bei der jungen Frau, die zwangsverheiratet wurde, sind Alltag für die Volkshochschullehrer. „Unsere Lehrer sind auch immer Sozialarbeiter“, sagt Nickels, „manche, die nur drei oder vier Jahre in der Schule waren, bringen eine Vorstellung vom Leben mit, die wir schwer realisieren können. Sie kommen mit der Vorstellung, dass in Deutschland alles möglich ist. Es ist auch vieles möglich, aber was die Wege dahin angeht, müssen wir manchmal desillusionieren.“

Doch jeden Lernerfolg, auch wenn es nur ein kleiner Schritt zum großen Ziel ist, auch als Erfolg zu definieren, ist Teil der Aufgabe an der Volkshochschule. Bei der Sprache fängt es an. Sie ist Mittel zur Integration und zum Erwerbsleben. „Was die Unterstützungsstrukturen angeht, sind wir im Landkreis gut aufgestellt“, sagt Nickels, „aber es gibt eine große Lücke, wenn die jungen Leute in den Beruf gehen.“ Das Nebeneinander von Sprachkursen und Job ist für viele schwer zu bewältigen. In Nierstein und Oppenheim gibt es mit Mitteln der Integrationspauschale Angebote der KVHS. „Das müsste organisiert werden, wir können das dauerhaft nicht finanzieren.“

UND WIE SIEHT ES BUNDESWEIT AUS?

UNSERE SERIE

Im ersten Quartal 2020 wurden bundesweit rund 56 000 Teilnahmeberechtigungen für Integrationskurse ausgestellt – etwas weniger als im ersten Quartal 2019. Bei den Kursteilnehmern ist ein deutlicher Rückgang auf rund 41 000 zu verzeichnen. Der Anteil der EU-Bürger in den Integrationskursen steigt laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch 2020 weiterhin leicht an: von 27,0 Prozent im ersten Quartal 2019 auf 27,8 Prozent. An zweiter Stelle der häufigsten Staatsangehörigkeiten der neuen Kursteilnehmer steht mit Rumänien ein EU-Mitgliedsstaat.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hieß Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ankömmlinge willkommen. Das verkürzte Zitat „Wir schaffen das!“ ging in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Doch was ist aus den Menschen geworden , die in Not zu uns kamen? Welche Probleme wurden gelöst – und welche nicht? Unsere Serie sucht nach Spuren und Auswirkungen in der Region.

In den nächsten Tagen sprechen wir an dieser Stelle auch mit Pfarrern, natürlich mit Flüchtlingen selbst.

Wir beleuchten aber auch, welche Herausforderungen die Flüchtlingskrise dem hiesigen Arbeitsmarkt brachte. Die Industrie- und Handelskammer Rheinhessen, die Handwerkskammer Rheinhessen, aber auch die Arbeitsagentur ziehen Bilanz nach fünf Jahre „Wir schaffen das“.



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